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DB-DEUTSCHE BAUZEITUNG
Publication : 2024
Auteur : Susanne Stacher

Mediathek Charles Nègre in Grasse, Ivry Serres und Laurent Beaudouin

Umgekehrter Kreuzgang mit Blick auf die Stadt
Im dichten, pastellfarbenen Gefüge der mittelalterlichen Stadt Grasse hebt sich ein strahlend weißer, sensibel in die Umgebung eingefügter Baukörper ab, umringt von feinen, kannelierten Säulen, die im heißen Klima Schatten spenden.
Wie bei einem umgekehrten Kreuzgang wird hier der Blick nicht auf einen meditativen Innenhof gerichtet, sondern nach außen, auf die umliegende Altstadt. Im Kern liegt der Zugang zur Kultur – Bücher, Musik, Kunstwerke zum Ausleihen, Ausstellungen, Theater und Lesungen – es wird aber auch für Unterhaltung gesorgt (Videospiele) und für kreatives Gestalten (Fablab). Die neue Mediathek verändert nicht nur in positiver Weise das bröckelnde Image der Stadt, die ihren Höhepunkt in der Blütezeit der Parfümerien erlebte, sondern wirkt auch wie ein sozialer Katalysator in diesem etwas verfallenem Zentrum, in dem heute überwiegend einkommensschwache Einwohner*innen leben, während die wohlhabenderen schon seit langem hinaus ins Grüne gezogen sind. Der Bau der Mediathek war eine kluge Maßnahme, um die Altstadt zu reaktivieren, in der es immer weniger Geschäfte und Restaurants gibt, außer für Touristen. Mit dem Neubau ging eine umfassende Sanierung der unmittelbaren Umgebung einher, wobei staatliche Mittel (ANRU) beantragt wurden, die für prekäre Stadtteile zur Verfügung stehen.
So wurden vor und seitlich der Mediathek drei neu gestaltete Plätze auf unterschiedlichen Höhenniveaus angelegt und die umliegenden Wohnhäuser saniert. Auf dem obersten Platz haben sich seither neue Restaurants angesiedelt, während auf dem etwas tiefer gelegenen Platz – der über einem Wasserreservoir errichtet wurde und mit Sitzstufen, einem Wasserbecken und einem seitlichen Spielplatz ausgestattet ist – sich Kinder tummeln, deren Wege auch in die Mediathek führen, denn ihr Haupteingang liegt hier. Dieser ist gekennzeichnet durch eine über das Wasserbecken auskragende, freischwebend wirkende Fassade, die zum Eintreten einlädt. Ihre Bekleidung aus feingliedrigen Weißbetonsäulen wird durch ein großes Fenster mit Rundbogen unterbrochen, das Einblick in das Innenleben der Mediathek gewährt. Die Bogenform ist keine Zierde, sondern Ausdruck des konstruktiven Prinzips, bestehend aus aneinandergereihten Tonnengewölben, die statisch wie T-Profile wirken und große Spannweiten überbrücken können. „Dies war in diesem hoch komplexen Grundstück nötig, um möglichst viel Raum zu gewinnen, ohne viel gründen zu müssen“, erklärt Ivry Serres. Unter dem auskragenden Tonnengewölbe führt ein Steg, der den Hof des tieferliegenden Ausstellungssaals überbrückt, in die Eingangshalle, die durch ihre gewölbte Deckenlandschaft eine eindrucksvolle Atmosphäre bietet.
„Die helle Materialität der Mediathek setzt einen bewussten Kontrast zu den farbigen Wohnbauten, so wie alle öffentlichen Gebäude der mittelalterlichen Stadt, die aus Stein gebaut sind“, erläutert Laurent Beaudouin, „wobei die gemeinschaftliche Bedeutung der Kirche durch die Bibliothek ersetzt wird“.
Ein topographisches Passstück
In die steile Topografie eingebettet, wirkt der Baukörper, dessen Rückseite an eine bestehende Häuserreihe andockt, wie ein organisches Verbindungsglied und wird zum intrinsischen Teil der Stadtlandschaft. Inspiriert von der nahegelegenen romanischen Abtei Thoronet und dem Tonnengewölbe der Fondation Maeght von Josep Llouís Sert, tritt dieser nüchterne, klösterlich anmutende Quader geschickt mit den umliegenden Gebäuden in Dialog und bringt sogar einen zusätzlichen Schwung ins Stadtgefüge freitragenden Seitenflügel, der sich mit einer leichten Krümmung sanft vom Baukörper abhebt und die Zugangsrampe beherbergt. Ein geschicktes kompositorisches Spiel gleicht die Asymmetrie des Baukörpers aus, die durch den Seitenflügel entsteht, der allerdings dieselbe Breite wie das bestehende Nachbarhaus auf der anderen Seite der Mediathek aufweist, zu dem er ein proportionales Pendant bildet. Durch einen asymmetrischen Versatz im fragmentarisch-krönenden Betonrisalit wird das Ungleichgewicht architektonisch thematisiert und optisch ausgeglichen; es bringt Spannung in das Gebäude und wirkt zugleich beruhigend – ein architektonischer Meisterstreich.
Auf dem seitlichen, zwei Geschoße tiefer liegenden Platz sind der Personaleingang, die Anlieferung und ein Ausstellungsraum angesiedelt, während sich wiederum ein Geschoß tiefer auf der Rückseite, im renovierten Altbau, ein kleinerer Eingang befindet, der an das enge Gassengewirr des unteren Stadtgebiets anbindet. Entlang der Gasse befindet sich gut sichtbar die Kleinkindbibliothek in signalhaften Rot- und Rosatönen, dahinter liegt der Zugang zu zwei unterschiedlich großen, schwarzen Auditorien, die sich ins Untergeschoß graben.
Fortsetzung der architektonischen Promenade
Die sich hochwindende Wegführung der Stadtlandschaft setzt sich im Gebäudeinneren gleichermaßen fort. So führt eine seitlich angeordnete Treppe hinauf zu einem kleinen Ausstellungsraum mit roten Wänden, welcher der Heliogravüre des lokalen Künstlers Charles Nègre gewidmet ist (er verlieh der Bibliothek ihren Namen). Auf dieser Ebene erreicht man auch den Wechselausstellungssaal, der mit seinen Tonnengewölben und Wänden aus Sichtbeton eine ganz besondere, nüchterne und meditative Atmosphäre hat, die durch die Verglasung zu einem atriumartigen Hof verstärkt wird. Das einzige architektonische Dekorum der Mediathek ist – vom Säulenmantel abgesehen – ein sorgfältig gestalteter Sichtbeton, der durch versetzte Schaltafeln eine Musterung aufweist, wobei die positiv heraustretenden, dreieckigen Fugen an Louis Kahns Bauten erinnern. „Die betonte Schlichtheit lebt von Gegensätzen“, betont Ivry Serres: „leicht und schwer, matt und glänzend, dunkel und hell“ – ein mediterraner Ansatz.
Die Treppe führt weiter hinauf zum Haupteingangsgeschoss, wo die Wegführung fließend in die geschwungene Rampe übergeht. Diese wird durch schmale Lichtstreifen rhythmisiert, generiert durch die kleinen Säulenabstände der vorgesetzten Fassade. Ein sehr weiches Licht entsteht durch die unregelmäßig gerippte Kannelierung der runden Säulen, die das Sonnenlicht progressiv und gefiltert ins Innere leiten. Die ausgesprochen schlanken Säulen mit einem Durchmesser von 15cm haben drei verschiedene Längen (32cm, 45cm, 74cm), um einen vibrierenden Rhythmus im Straßenbild zu erzeugen. „Ursprünglich war im Wettbewerb eine Claustra aus Steinblöcken vorgesehen, aber die vielen Tauben haben uns zum Umdenken gezwungen“, erläutern die Architekten. „So schlugen wir vertikale, vorfabrizierte Säulen vor, die den gesamten Block umhüllen, was bei der West-Ostorientierung des Gebäudes auch in Bezug auf Belichtung und Beschattung von Vorteil ist. Die Säulenabstände betragen 5cm, damit Tauben nicht in den Zwischenraum von Hülle und Glasfassade eindringen können. Insgesamt sind es 1300 Säulen, aneinandergereiht ergibt dies eine Länge von 8km, in etwa so hoch wie der Mount Everest“, erläutern sie nicht ohne Stolz die relativ komplizierte Bauweise. Die mithilfe von Gewindestangen übereinandergestapelten Säulenstücke, deren Hohlräume aus Stabilitätsgründen mit Mörtel ausgegossen sind, werden von Stahlprofilen getragen. Diese sind geschossweise über ein abstandsgenerierendes C-Betonprofil an den unteren und oberen Kanten der raumhaltigen, 1.50m hohen Tonnengewölbedecken befestigt. Diese vorgesetzte, 1m tiefe Raumschicht gewährt Zugang zur Reinigung und wirkt auch als klimatischer Filter, da die Säulen Schatten spenden und im Sommer die Glasfassade vor Überhitzung schützen.
Ort einer anderen Zeitlichkeit
Über die Rampen gelangen die Besucher*innen in die beiden übereinander liegenden Bibliothekssäle. Deren Tonnengewölbedecken, die auf drei hintereinander liegenden Wandsegmenten in Querrichtung aufliegen, generieren große, freie Räume mit wunderbarer Lesestimmung. Die Wölbungen sind indirekt beleuchtet und werden durch Lichtstreifen akzentuiert, ein Teppichboden absorbiert den Schall. „Eine Bibliothek ist ein Ort der Stille – Ort einer anderen Zeitlichkeit“, betont Laurent Beaudouin, der die Notwendigkeit der Suspendierung des Alltags hervorhebt. Im Inneren herrscht eine beruhigende visuelle Ruhe durch schlicht designte Eichenholzmöbel, wobei bequeme Sofas eine Touch Farbe einbringen. Der obere Saal, der mit dem darunterliegenden über zwei Öffnungen verbunden ist, hat mit seiner mittigen, doppelt so breiten Deckenwölbung einen ganz besonderen Charakter, mit beidseitigem Blick auf die Stadt. Auf der Rückseite können die Besucher*innen auf eine sonnige Dachterrasse treten, wo in einem kleinen Türmchen – eine Reminiszenz an die ehemaligen Geschlechtertürme von Grasse – ein Café untergebracht ist. Auch hier werden alle Wandflächen, inklusive Haustechnikraum, mit dem Säulenmantel umgeben, wodurch ein homogenes, geradezu fließendes Raumkontinuum entsteht.
Sempers Bekleidungstheorie kommt hier durch die klare Trennung zwischen architektonischem Raum und Hülle, Kern und Gewand, Struktur und Ornament voll zum Tragen. Beides wird gekonnt zelebriert und zu einem architektonischen Höhepunkt gebracht, jedoch in schlichter und funktionaler Nüchternheit, „die dank der notwendigen Einsparungsmaßnahmen verstärkt wurde“, wie Ivry Serres schmunzelnd eingesteht.

Susanne Stacher